7.10. Die Vielfalt der Kristalle

In diesem Abschnitt werde ich über Kristalle und Kristallstrukturen schreiben, die ich für bemerkenswert halte. In irgendeiner Hinsicht sind sie außergewöhnlich, vielleicht sogar faszinierend. Manchmal wird die besondere Struktur im Mittelpunkt stehen, dann wieder die besonderen Eigenschaften des Stoffes. Die Auswahl der Kristallstrukturen folgt keinem von außen gegebenem Kriterium, sondern nur einem einzigen, subjektiven : Ich finde den Stoff bemerkenswert genug, um darüber zu schreiben.

Im weiteren Verlauf des Abschnitt erfahren Sie mehr zu den folgenden Kristallstrukturen.

7.10.1. Dibenzolchrom

Dibenzolchrom (C12H12Cr) besteht aus Molekülen. Diese Moleküle haben eine Sandwich–Struktur : zwischen 2 ebenen Benzolringen liegt ein Chromatom. Bild 3 auf der Seite über Ferrocen und Co. zeigt ein solches Molekül und seine Strukturformel. Mehr Informationen zum Dibenzolchrom–Molekül finden Sie in Kapitel 6.4.2.2.

Fußnote 1 : Genauer : Ich habe in der x–y–Ebene, die die Vorderseite des gezeichneten Würfels enthält, ein paar Chromatome außerhalb der Elementarzelle gezeichnet.

Die Elementarzelle des Dibenzolchrom–Kristalls ist kubisch, und die Chromatome besetzen die Positionen einer kubisch flächenzentrierten Kugelpackung. Bild 1 zeigt links einen Ausschnitt, der etwas größer ist als eine Elementarzelle. Ich habe die Vorderseite des Würfels ausgeweitet (→ Fußnote 1), und im gezeichneten Ausschnitt habe ich nur Chromatome gezeichnet.

Fußnote 1 : Genauer : Ich habe in der x–y–Ebene, die die Vorderseite des gezeichneten Würfels enthält, ein paar Chromatome außerhalb der Elementarzelle gezeichnet.

Ausschnitt der Elementarzelle von Dibenzolchrom

Bild 1 : Elementarzelle von Dibenzolchrom. 4 Chromatome auf der Vorderseite sind eingezeichnet, dazu 4 Chromatome in derselben Ebene.

8 Moleküle Dibenzolchrom

Bild 2 : Dibenzolchrom–Moleküle an denselben Stellen wie die Chromatome in Bild 1, alle aufrecht stehend. Diese Darstellung entspricht nicht der Realität. Info im Text.

Eine naive Sichtweise

Die Chromatome besetzen die Positionen der Kugelpackung, da werden es die vollständigen Moleküle natürlich auch tun. Und sie werden neben– und übereinander stehen wie die Türme im Schachspiel. In Bild 2 habe ich ein paar Dibenzolchrom–Moleküle auf diese Art gezeichnet. Jedoch entspricht das nicht der Realität. Der Grund ist, dass ich hier (mit Absicht) ein paar Dinge übersehen habe.

Prinzipien

Schon in der Anfangszeit der Kristalluntersuchungen mittels Röntgenstrukturanalyse hat man festgestellt, dass sich die Einheiten (Atome, Ionen, Moleküle), aus denen ein Kristall besteht, unter den gegebenen Bedingungen möglichst dicht packen. Warum tun sie das ?

Freie Enthalpie. – Eine eher allgemeine Aussage weist auf die Antwort auf die „wichtigste Frage” hin : Die Freie Enthalpie eines möglichst dicht gepackten Ensembles von Teilchen ist geringer als die Freie Enthalpie anders gepackter Ensembles (vgl. Kapitel 4.2.2.). Aber was beeinflusst hier die Freie Enthalpie ?

Wie immer, Entropie und Enthalpie.

Entropie. – Dibenzolchrom–Moleküle sind nicht kugelförmig. Sie sind auch nicht turmförmig (wie ein Zylinder aussehend). Wir müssen also nicht darüber nachdenken, wie sich Türme anordnen. Ihre Form erinnert eher an eine Sanduhr. Zum Erreichen niedriger Freier Enthalpie ist eine hohe Entropie förderlich. Die Moleküle werden sich, soweit möglich, eher unregelmäßig anordnen. Und eine unregelmäßige Anordnung ist bei sanduhrförmigen Molekülen leicht möglich.

Enthalpie. – Die Enthalpie des Systems Dibenzolchrom–Kristall sollte niedrig sein. Betrachte die Kräfte, die zwischen den Molekülen wirken. Wie bei neutralen Molekülen üblich, sind weder Atom– noch Ionenbindungen vorhanden, auch keine Wasserstoffbrücken– oder gar Metallbindungen. Es sind wieder die Ameisen unter den Bindungskräften, die van–der–Waals–Kräfte, die hier entscheidend sind (vgl. Kapitel xxx). Besonders von den Benzolringen mit ihren großen delokalisierten Orbitalen gehen sie aus.

 

Chromatome, unterschiedlich markiert

Bild 3 : Elementarzelle der kubisch flächenzentrierten Kugelpackung, mit unterschiedlich gefärbten Kugeln.

4 Moleküle Dibenzolchrom

Bild 4 : 4 Dibenzolchrom–Moleküle, unterschiedlich ausgerichtet, Die Chromatome liegen an den Positionen der Kugelpackung links mit gleicher Farbcodierung.
Untersuchen Sie den Dibenzolchrom–Kristall interaktiv in einer JSmol–Visualisierung.

7.10.1.1. Kristallstruktur

Die Dibenzolchrom–Moleküle sind unterschiedlich ausgerichtet.

Um die Kristallstruktur von Dibenzolchrom (Lit. L–258) verstehen zu können, sehen wir uns erst noch einmal die Elementarzelle der kubisch flächenzentrierten (=kubisch dichtesten) Kugelpackung an. Sie enthält 4 Atome. In Bild 3 habe ich sie mit 4 Farben markiert.

Diese farbigen Atome stehen für Chromatome, und sie sind das Zentrum der Dibenzolchrom–Moleküle. In Bild 4 sehen Sie 4 solcher Moleküle. Die Benzolringe sind schwarz, rot, grün und blau. Es sind natürlich immer Kohlenstoffatome, die farbig gezeichnet sind, aber so sieht man schnell, welches Molekül zu welcher Position in der Elementarzelle gehört. Und Sie sehen sofort, dass alle 4 Moleküle unterschiedlich ausgerichtet sind.

 

4 Moleküle Dibenzolchrom

Bild 5 : 4 Dibenzolchrom–Moleküle, längs einer Raumdiagonalen betrachtet. Sie blicken auf eines der Moleküle von oben, so dass nur einer der beiden Benzolringe sichtbar ist.

Dibenzolchrom, Elementarzelle

Bild 6 : 16 Dibenzolchrom–Moleküle in einer Kalottendarstellung. Die scheinbar chaotische Anordnung ist doch optimal.

Art der Ausrichtung. – Kann man etwas darüber sagen, wie die Moleküle ausgerichtet sind ? Ja. Sehen Sie sich Bild 5 an. Es scheint dort kein Würfel zu sein, sondern 6 tortenartig angeordnete Segmente. Tatsächlich ist es wieder der Würfel der Elementarzelle. Sie betrachten ihn in Richtung einer Raumdiagonale.

Und noch etwas scheint seltsam. Bei einem der Dibenzolchrom–Moleküle sieht man nur einen Benzolring. Der Grund ist, dass Sie das Molekül senkrecht von oben betrachten, und der zweite Benzolring ist vom ersten verdeckt. Das Dibenzolchrom–Molekül ist also exakt in Richtung einer Raumdiagonale der Elementarzelle ausgerichtet.

Jeder Würfel hat 8 Ecken und somit 4 Raumdiagonalen. Die Elementarzelle enthält 4 Chromatome, damit 4 Dibenzolchrom–Moleküle, die alle unterschiedlich ausgerichet sind. Passt ! Jedes der 4 Moleküle in den 4 Farben ist an einer der 4 Raumdiagonalen ausgerichtet.

Raumerfüllung. – Stellt man 2 Sanduhren nebeneinander, füllen sie den Raum nur zu einem geringen Teil aus. Geschickter ist es, die dünnen Stellen in der Mitte aneinander zu legen. Es sollen aber nicht nur zwei, sondern sehr viele sanduhrförmige Dibenzolchrom–Moleküle in alle 3 Richtungen des Raums möglichst dicht gepackt werden, und neben der Geometrie soll auch die Freie Enthalpie optimal (niedrig) sein. Wie das geht, zeigt uns die Natur. In Bild 6 können Sie es sehen. Ich habe die Moleküle in einer Kalottendarstellung gezeichnet, die ihren tatsächlichen Platzbedarf zeigt. Sie sehen, dass die Moleküle den zur Verfügung stehenden Raum optimal nutzen. Die unterschiedliche, im ersten Moment chaotisch aussehende, aber doch sehr symmetrische Ausrichtung längs der Raumdiagonalen ist der Schlüssel dazu.

Untersuchen Sie Kristallstruktur, Ausrichtung und Raumerfüllung des Dibenzolchrom–Kristalls interaktiv in einer JSmol–Visualisierung.

 

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