Es gibt unzählige Stoffe. Man will über sie reden. Wie soll man es machen ?
Fußnote 1 : Von diesen beiden Stoffen (Campher und Atropin) werden Sie im laufenden Abschnitt immer wieder lesen.
Eine gängige Methode, mit der Vielfalt der Dinge umzugehen, ist, jedem einen Namen zu geben. Schwefelsäure und Essigsäure, Benzol und Naphthalin, Luft und Leitungswasser, aber auch Berlinerblau, Campher und Atropin (→ Fußnote 1) sind solche Namen für Stoffe.
Fußnote 1 : Von diesen beiden Stoffen (Campher und Atropin) werden Sie im laufenden Abschnitt immer wieder lesen.
Vorteile Namen haben große Vorteile. Man kann sie sich leicht merken jedenfalls wenn sie geschickt gewählt wurden. Noch wichtiger ist, dass jeder Mensch anhand des Namens für sich eine Vorstellung von dem Ding erzeugen kann, das da benannt wurde. Das hilft, den Namen mit dem benannten Gegenstand (hier ist es ein Stoff) zu assoziieren.
Nachteile Leider haben Namen 2 große Nachteile.
Fußnote 2 : Diese Zahl wird vom Chemical Abstracts Service genannt, der weltweit alle organischen und anorganischen Verbindungen registriert. Mehr über Reinstoffe erfahren Sie in Kapitel 3.7.1.
Der erste ist die Zahl der Stoffe. Mitte 2023 waren über 204 Millionen Stoffe (ohne Proteine und DNASequenzen) bekannt (→ Fußnote 2). Für jeden einen merkbaren Namen zu vergeben, ist unmöglich.
Fußnote 2 : Diese Zahl wird vom Chemical Abstracts Service genannt, der weltweit alle organischen und anorganischen Verbindungen registriert. Mehr über Reinstoffe erfahren Sie in Kapitel 3.7.1.
Der zweite Nachteil ist, das diese Namen eher zufällig vergeben wurden. Schwefelsäure enthält Schwefel, aber Essigsäure enthält keinen Essig, sondern ist in Essig enthalten. Und Salzsäure heißt so, weil man sie früher aus Kochsalz hergestellt hat. Berlinerblau wurde in Berlin erfunden, ist aber auch unter den Namen Preußischblau, Turnbulls Blau und mehreren anderen bekannt. Atropin ist nach seinem Vorkommen in der Tollkirsche, deren lateinischer Namen Atropa belladonna lautet, benannt. Aus keinem dieser Namen kann man etwas über die Struktur der benannten Stoffe oder ihre Eigenschaften ableiten, und, was für alle in der Chemie Tätigen das Wichtigste ist, man kann aus den Namen nicht auf das Reaktionsverhalten schließen.
Trivialnamen Trotzdem haben Namen wie die eben vorgestellten in einem gewissen Bereich ihre Bedeutung behalten. Sie dienen der schnellen und einfachen Kommunikation, wenn man oft benutzte und allgemein bekannte Stoffe benennen will. Sie heißen Trivialnamen.
Ich habe Stoff X mit orthoXylol reagieren lassen. Du weißt doch, die Moleküle von orthoXylol sind wie die von Benzol gebaut, nur mit 2 zusätzlichen Methylgruppen, und die sitzen an benachbarten CAtomen. So umständlich wird man nur einmal miteinander reden. Und natürlich geht es einfacher.
Man kann Namen benutzen, die kurz und knapp genau solche Informationen enthalten. Sie heißen systematische Namen. 1,2Dimethylbenzol und 1,3Dimethylbenzol, EisenIIchlorid und EisenIIIchlorid, Essigsäureethylester und Butan1,4diol gehören dazu, aber auch 1,7,7Trimethylbicyclo[2.2.1]heptan2on ist ein systematischer Name, obwohl er weder kurz noch knapp ist.
Systematische Namen codieren die Zusammensetzung des Stoffes und den Bau der Moleküle. Wer den Code entschlüsseln kann, bekommt diese Informationen, und wer chemisches Hintergrundwissen besitzt, erhält noch viel mehr Informationen, nämlich solche über die Eigenschaften oder das Reaktionsverhalten der Stoffe. Sowohl EisenIIChlorid als auch EisenIIIchlorid sind Salze und werden die typischen Salzreaktionen zeigen. EisenIIchlorid wird zudem, wie alle EisenIIVerbindungen, leicht oxidierbar sein. Die beiden Dimethylbenzole besitzen keine funktionelle Gruppe, sind damit reaktionsträge und zum Beispiel als Lösungsmittel geeignet. Im Gegensatz dazu wird Butandiol mit seinen HydroxylGruppen ein weites Spektrum an Reaktionen zeigen.
Vorteile Ein großer Vorteil der systematischen Namen ist die Eindeutigkeit. Wenn man die Regeln zu ihrer Erstellung kennt, kann man jeder Verbindung einen eindeutigen Namen geben. Dadurch lassen sich diese Namen in Verzeichnissen und Datenbanken nutzen, um Informationen (Eigenschaften oder Reaktionsverhalten) einem Stoff zuzuordnen und später wiederzufinden.
In diesem Zusammenhang ist es praktisch, dass Namen (im Gegensatz zu den Strukturformeln in Kapitel 3.8.4.) nur aus Buchstaben, Ziffern und wenigen Sonderzeichen, die man auf jeder Tastatur findet, bestehen.
Systematische Namen sind also eindeutig und datenbankkompatibel.
Nachteile Einfache Verbindungen haben einfache Namen, die man auf einfache Weise aus den Regeln gewinnen kann. Aber was ist mit großen, kompliziert aufgebauten Molekülen ?
Fußnote 3 : Die Organisation, die sich als weltweit führende Autorität zur Aufstellung der Regeln für Namen chemischer Verbindungen und für chemische Bezeichnungen sieht, ist die IUPAC (International Union for Pure and Applied Chemistry, deutsch Internationale Vereinigung für Reine und Angewandte Chemie). Sie hat diese Regeln in 8 Büchern zusammengefasst. Allein dasjenige für die Benennung organischer Verbindungen umfasst über 1500 Seiten (Stand Ende 2020). Das im Internet frei zugängliche Gold Book zur chemischen Terminolgie hat 1670 Seiten (Lit. L804).
Ganz klar, die Regeln werden auch kompliziert. Um es deutlich zu sagen, sie werden so kompliziert, dass sie kaum noch zu handhaben sind (→ Fußnote 3). Wer eine neu hergestellte Verbindung benennen will, muss da durch, aber alle anderen werden die Nomenklatur möglichst beiseite schieben. Es ist ja auch eher eine Arbeit für Buchhalter, nicht für kreative Forschende.
Fußnote 3 : Die Organisation, die sich als weltweit führende Autorität zur Aufstellung der Regeln für Namen chemischer Verbindungen und für chemische Bezeichnungen sieht, ist die IUPAC (International Union for Pure and Applied Chemistry, deutsch Internationale Vereinigung für Reine und Angewandte Chemie). Sie hat diese Regeln in 8 Büchern zusammengefasst. Allein dasjenige für die Benennung organischer Verbindungen umfasst über 1500 Seiten (Stand Ende 2020). Das im Internet frei zugängliche Gold Book zur chemischen Terminolgie hat 1670 Seiten (Lit. L804).
Es sollte niemand verwundern, dass nicht nur die Moleküle und die Regeln ihrer Benennung, sondern auch die entstehenden Namen kompliziert sind. Einer der Bestandteile des Giftes der Tollkirsche heißt (RS)(8Methyl8azabicyclo[3.2.1]oct3yl)3hydroxy2phenylpropanoat. Aber wer wird diesen Namen benutzen, wenn es nicht sein muss ?
Alle Arten von Namen haben Nachteile zu umständlich, zu wenig aussagekräftig. Trotzdem will man möglichst effizient über Stoffe reden. Man hat nach einer anderen Lösung gesucht, und man hat eine gefunden. Um sie geht es im nächsten Abschnitt.
Welche Informationen sind wichtig, wenn man über einen Stoff nicht nur reden will, sondern auch seine Zusammensetzung und seinen Aufbau aus kleinsten Teilchen kommunizieren will ?
Die in der Chemie Tätigen haben 2 Möglichkeiten gefunden, die Anforderungen zu realisieren. Es sind die Modelle Summenformel und Strukturformel.
Die Regel, nach der Summenformeln aufgestellt werden, ist einfach.
Benzol ist aus Molekülen aufgebaut. Jedes Molekül besteht aus 6 Kohlenstoffatomen und 6 Wasserstoffatomen. Seine Summenformel ist C6H6.
EisenIIIchlorid ist nicht aus Molekülen aufgebaut (sondern aus Ionen). In einem EisenIIIchloridKristall kommen auf jedes Eisenion 3 Chlorionen. Seine Summenformel ist FeCl3.
Bild 1 : Zwei ganz ähnlich aussehende Summenformeln, die aber zu Stoffen mit völlig unterschiedlichem Aufbau gehören.
Im vorigen Unterabschnitt war schon alles über den Aufbau der beiden Stoffe aus kleinsten Teilchen bekannt, und man konnte leicht die Summenformel aufstellen. In der Realität will man meist den umgekehrten Weg gehen. Man liest die Formel und will möglichst viele Informationen über den Stoff daraus entnehmen. Sehen Sie sich dazu Bild 1 an.
Die Summenformel ist also ein sehr einfaches Modell, das entsprechend nur sehr begrenzte Informationen über einen Stoff preisgibt.
So hat zum Beispiel Campher die Summenformel C10H16O und die von Atropin lautet C17H23NO3. Über die Eigenschaften und den Molekülbau der beiden Stoffe kann man nichts aus der Formel entnehmen.
Viele anorganische Stoffe (darunter so gut wie alle, die man in der Schule behandelt) haben eine einfache Zusammensetzung, und man kann sie gut mit Summenformeln beschreiben.
Nur für die allereinfachsten organischen Stoffe bieten Summenformeln hinreichende Informationen. In der Regel ist der räumliche Bau von Molekülen wichtig, und für dessen Beschreibung braucht man etwas Besseres.
Die Regel, nach der Strukturformeln aufgestellt werden, ist genauso einfach wie die für Summenformeln.
Bild 2 : Sehr ausführliche Strukturformel von Buttersäure.
Bild 2 zeigt die Strukturformel von Buttersäure, wie man sie nach dieser Regel erhält.
Eine solche sehr ausführliche Form der Strukturformel, bei der man jedes Atom, ohne Ausnahme, zeichnet, ist die Version für Anfänger. Alle anderen erkennen bald, besonders in Molekülen der organischen Chemie, immer wiederkehrende Muster. Von jedem Kohlenstoffatom gehen 4 Bindungen aus, von jedem Sauerstoffatom 2 und von jedem Wasserstoffatom eine Bindung. Es ergeben sich Gruppen aus einem C und 3 HAtomen (am Ende eines Moleküls) oder solche aus einem C und 2 HAtomen (in der Mitte). Es nervt, immer wieder diese gleichen Anordnungen zu sehen und zeichnen zu müssen.
Bild 3 : 2 Halbstrukturformeln von Buttersäure.
Strukturformeln ein wenig, oder stark, oder extrem stark abzukürzen, ist eine Disziplin, in der es die Chemikerinnen und Chemiker zu echter Meisterschaft gebracht haben. Bild 3 zeigt wieder 2 Strukturformeln von Buttersäure. Man nennt sie Halbstrukturformeln. Wasserstoffatome sind mit dem zugehörigen Kohlenstoffatom zusammengefasst, Bindungsstriche sind weggelassen, und rechts in der Formel sind 4 Atome (man nennt die Gruppe, die sie bilden, eine Carboxylgruppe) in einer Kurzform geschrieben. Gruppen wie CH3 oder COOH kommen in der organischen Chemie sehr häufig vor, und wer ein oder zweimal die ausführliche Form gesehen hat, weiß, was die Kurzform bedeutet.
Bild 4 : Strukturformel von Buttersäure, so kurz wie möglich.
Die Formeln in Bild 3 sind immer noch redundant. Das heißt, man kann Teile weglassen und erhält trotzdem die gesamte Information.
Die erste Vereinfachung der Halbstrukturformeln erfolgt auf der Grundlage chemischer Fakten. Von jedem Kohlenstoffatom gehen 4 Bindungen aus. Viele von diesen sind Einfachbindungen zu einem Wasserstoffatom. Lässt man sowohl alle Wasserstoffatome, die an Kohlenstoffatome gebunden sind, als auch die zugehörigen Bindungen weg, geht keine Information verloren. Fehlende Bindungen verlaufen zu einem Wasserstoffatom und sind zur besseren Übersichtlichkeit nicht gezeichnet. Eine Ausnahme sind Wasserstoffatome, die für das Verständnis des Molekülbaus erforderlich sind. Solche werden immer gezeichnet.
Die zweite Vereinfachung ist schreibtechnischer Art. Man schreibt das Symbol C für Kohlenstoffatome nicht hin, außer wenn es zum Verständnis erforderlich ist. Da organische Moleküle zum größten Teil aus Kohlenstoff und Wasserstoffatomen bestehen, hat man eine Menge Schreibarbeit gespart. Wenn man das Symbol C nicht mehr hinschreibt, muss man auf andere Art kennzeichnen, wo eine Bindung aufhört und die Nachbarbindung anfängt. Die Lösung ist einfach. Bindungen werden mit einem Knick aneinandergereiht.
Bild 4 zeigt, wie die Strukturformel von Buttersäure nun aussieht. Sie ist übersichtlich und aufs Wesentliche reduziert. Die Carboxylgruppe, die für das Reaktionsverhalten verantwortlich ist, ist deutlicher zu sehen als vorher. Der Rest ist auf 3 Striche zusammengeschmolzen, und es ist klar, dass 3 Kohlenstoffatome dahinter stecken, an die insgesamt 7 Wasserstoffatome gebunden sind.
Nun kann ich endlich an die Auflösung des Rätsels vom Beginn des Abschnitts gehen. Ich habe dort 2 in der Natur vorkommende Stoffe genannt, Atropin und Campher.
Aus diesen Namen kann man keine Eigenschaften ableiten. Danach habe ich, ein wenig versteckt, die systematischen Namen gegeben : (RS)(8Methyl8azabicyclo[3.2.1]oct3yl)3hydroxy2phenylpropanoat für Atropin und 1,7,7Trimethylbicyclo[2.2.1]heptan2on für Campher kaum auszusprechen und nur für HardcoreNomenklaturfachleute zu entschlüsseln.
Auch die Summenformeln (C17H23NO3 für Atropin und C10H16O für Campher) sagen wenig aus.
Dagegen sind die Strukturformeln informationsreich.
1
Bild 5 : Strukturformel von Atropin.
2
Bild 6 : Strukturformel von Campher.
Fußnote 4 : LD steht für letale Dosis. Der LD50Wert gibt an, bei welcher Dosis 50 % der Versuchstiere sterben.
Atropin (1) ist ein Bestandteil des Giftes der Tollkirsche. Sein LD50Wert beträgt 75 mg/kg (Maus, oral). Es wird aber auch in der Augenheilkunde zur Pupillenerweiterung benutzt (um besser ins Augeninnere sehen zu können). In vergangenen Zeiten verwendeten Frauen den Saft der Tollkirsche (der lateinische Name ist Atropa belladonna, und das heißt schöne Frau), um durch die erweiterten Pupillen einen feurigen Blick zu bekommen und anziehender auf Männer zu wirken. Zum Glück sind diese Zeiten vorbei. Das Atropinmolekül (Bild 5) besitzt als funktionelle Gruppen eine Estergruppe und eine Hydroxylgruppe. An der Estergruppe ist Hydrolyse möglich, an der Hydroxylgruppe eine Reihe weiterer Reaktionen.
Fußnote 4 : LD steht für letale Dosis. Der LD50Wert gibt an, bei welcher Dosis 50 % der Versuchstiere sterben.
Campher (2) hat einen angenehmen Geruch und es werden ihm gesundheitsfördernde Wirkungen nachgesagt. Das Camphermolekül (Bild 6) besitzt 2 asymmetrische Kohlenstoffatome (vgl. Kap. xx), bildet also Enantiomere. Im Prinzip sind es 4, jedoch sind nur 2 geometrisch möglich (vgl. Kap. xx). Seine einzige funktionelle Gruppe ist eine Ketogruppe, die die üblichen Reaktionen solcher Gruppen zeigt, zum Beispiel die Reduktion zu einem sekundären Alkohol. Das Molekül ist näherungsweise kugelförmig, hat dadurch einen relativ hohen Schmelzpunkt (vgl. Kap. 12) und bildet plastische Kristalle (vgl. Kap. xx).
3
Bild 7 : Strukturformel von 4Pentyl4'cyanobiphenyl.
Bild 7 zeigt die Strukturformel von 4Pentyl4'cyanobiphenyl (3). Mit dem richtigen Hintergrundwissen (das heißt, einer guten chemischen Ausbildung) kann man aus dieser Strukturformel eine Menge herauslesen.
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