7.1.5. Schnittsequenzen (engl. section sequences)

Die Idee ist einfach, und sicher kennen Sie sie schon. Stellen Sie sich einen Plan eines Einkaufszentrums vor, in dem zuerst alle Geschäfte des Untergeschosses eingezeichnet sind, darüber alle Läden vom Erdgeschoss, und so weiter.

Dasselbe machen wir mit der Elementarzelle. Wir legen mehrere Schnittebenen und können zuerst sehen, welche Atome oder Ionen ganz unten in der Elementarzelle sind und wie weit sie voneinander entfernt sind. Auf den weiteren Ebenen sehen wir die Atome oder Ionen, die weiter oben, zum Beispiel in halber Höhe der Elementarzelle liegen. Bald wird sich zeigen, dass man noch mehr aus den Schnittebenen ablesen kann.

Elementarzelle von NaCl mit Schnittebenen

Bild 1 : Elementarzelle von NaCl mit 3 Schnittebenen.

Schnittsequenz durch die Elementarzelle von NaCl

Bild 2 : Schnittsequenz durch die Elementarzelle von NaCl.

7.1.5.1. Beispiel Natriumchlorid NaCl

Betrachten wir Bild 1. Es zeigt die bekannte Elementarzelle von Natriumchlorid (NaCl), dazu sind als rote Pfeile die Richtungen der Koordinatenachsen eingezeichnet. Besonders die z–Achse wird gleich wichtig werden. Die Natrium–Ionen sind violett gezeichnet, die Chlor–Ionen grün. Weiter sind 3 Schnittebenen durch die Elementarzelle gelegt. Die Schnittebene am unteren Rand habe ich rot gezeichnet, die nächste, genau auf halber Höhe, blau, und die letzte, am oberen Rand, grün. Die z–Achse zeigt nach oben, deshalb hat die Ebene auf halber Höhe die Kristallkoordinate z=0,5, und entsprechend die Ebenen am unteren und oberen Rand z=0,0 und z=1,0.

Schnittebenen. – Bild 2 zeigt das Ergebnis des Schnittes der 3 Ebenen mit der Elementarzelle. Eine solche Folge von Schnittebenen nennt man eine Schnittsequenz (engl. section sequence).

Fangen wir, wie üblich, unten an. Dort, wo die rote Ebene die Elementarzelle schneidet (also bei z=0,0), sind an den Ecken Natrium–Ionen, ebenso in der Mitte der Schnittebene. Chlor–Ionen finden sich jeweils in der Mitte der Kanten. Genau diese Situation sehen Sie im unteren Teil von Bild 2.

Für die mittlere, blaue Schnittebene bei z=0,5 können wir ganz analog argumentieren. Chlor–Ionen sind an den Ecken und in der Mitte, Natrium–Ionen auf den Kantenmitten. Der mittlere Teil von Bild 2 spiegelt die Situation wider.

Für die obere, grüne Schnittebene bei z=1,0 können wir uns die Argumentation leichter machen. Diese Ebene liegt am oberen Rand der gezeichneten Elementarzelle und gleichzeitig am unteren Rand der darüberliegenden. Da sie am unteren Rand einer Elementarzelle liegt, muss sie gleich der roten Ebene am unteren Rand der gezeichneten Zelle sein. Daher könnte man eigentlich den oberen Teil von Bild 2 weglassen, denn er ist redundant. Wegen der besseren Anschaulichkeit lässt man ihn aber gewöhnlich stehen.

Nächste Nachbarn. – Schnittsequenzen helfen, sich ein Bild über die Nachbarschaft eines Atoms oder Ions zu machen. Betrachten wir das Ion B in Biild 2. Es ist ein Natrium–Ion (violett). Sofort sieht man 3 Chlor–Ionen als nächste Nachbarn. Ein viertes Chlor–Ion erschließt man sich leicht. Es liegt unterhalb von B (auf Bild 2) bzw. vor B (auf Bild 1), hat also auch die Koordinate z=0,5.

Der Vorteil der Schnittsequenzen ist, dass man schnell sieht, dass die Chlor–Ionen A und C ebenfalls nächste Nachbarn von B sind. Sie liegen direkt unter bzw. über B, und sie haben denselben Abstand wie die anderen 4 nächsten Nachbarn, nämlich eine halbe Kantenlänge der Elementarzelle. Das Natrium–Ion B hat 6 nächste Nachbarn. Es sind Chlor–Ionen, die es oktaedrisch umgeben.

Übernächste Nachbarn. – Die nächsten Nachbarn des Chlor–Ions M (in der Würfelmitte, z=0,5) kann man wie eben herausfinden. Es sind 6 Natrium–Ionen. Aber was ist mit den übernächsten Nachbarn ? Im mittleren Teil von Bild 2 sehen wir 4 Chlor–Ionen an den Ecken der Schnittebene. Sie sind weiter als die Nachbar–Natrium–Ionen entfernt, aber nach diesen die nächsten. Ihre Entfernung zu M beträgt eine halbe Flächendiagonale der Elementarzelle. Gibt es noch weitere Nachbarn im gleichen Abstand ? Ja, aber nur sehr Geübte sehen es aus Bild 2, dass alle 8 Chlor–Ionen im unteren und im oberen Teil von Bild 2 ebenfalls den Abstand einer halben Flächendiagonale haben. Wir brauchen zusätzliche Werkzeuge.

 

Elementarzelle von Rutil mit Schnittebenen

Bild 3 : Elementarzelle von Rutil mit 3 Schnittebenen.

Schnittsequenz durch die Elementarzelle von Rutil

Bild 4 : Schnittsequenz durch die Elementarzelle von Rutil.

7.1.5.2. Beispiel Rutil TiO2

Betrachten wir Bild 3, das die Elementarzelle von Rutil zeigt und gehen analog zum Natriumchlorid vor. Wie dort sind 3 Schnittebenen durch die Elementarzelle gelegt, sie liegen in gleichen Höhen und sind genauso farbcodiert. Dass die Titan–Ionen (violett) an den Ecken und im Mittelpunkt des Quaders liegen, sieht man sofort, aber die Lage der Sauerstoff–Ionen (rot) erschließt sich nicht von selbst. Bild 4 hilft weiter.

Schnittebenen. – Bild 4 zeigt das Ergebnis des Schnittes der 3 Ebenen mit der Elementarzelle. Die Schnittebenen sind Quadrate. Jedoch ist die Elementarzelle kein Würfel, sondern nur ein Quader. Deshalb liegen die Ebenen dichter übereinander als beim Natriumchlorid.

In die untere (rot markierte) Ebene habe ich einige Hilfslinien eingezeichnet. So sehen Sie leicht, dass die beiden Sauerstoff–Ionen auf der Diagonalen liegen. 2 gestrichelte Linien teilen die Ebene in 3 gleiche Teile. Die Sauerstoff–Ionen liegen nicht auf diesen Linien, sondern sind etwas nach außen gerückt. Sie teilen die Diagonale also nicht in 3 gleiche Teile. Natürlich sind die Titan–Ionen an den Ecken.

In der mittleren (blau markierten) Ebene bei z=0,5 ist exakt in der Mitte ein Titan–Ion. Auf der Diagonalen sind weit außen, fast an den Ecken, Sauerstoff–Ionen. Die obere (grün markierte) Ebene ist mit der unteren identisch.

Nachbarn. – Das Titan–Ion M hat 2 Sauerstoff–Ionen in der gleichen Ebene (z=0,5) als Nachbarn. Natürlich haben sie die gleiche Entfernung vom Titan–Ion. Aber was ist mit den insgesamt 4 Sauerstoff–Ionen in der unteren und der oberen Ebene ? Man kann sich ohne Probleme klarmachen, dass alle 4 gleichweit von M entfernt sind. Aber ob die Entfernung dieser 4 zu M größer, kleiner oder gleich der Entfernung von M zu den beiden Sauerstoff–Ionen in der gleichen Ebene ist, kann man der Zeichnung nicht entnehmen. Wir brauchen zusätzliche Werkzeuge.

Und wie sieht es mit den Nachbarn des Sauerstoff–Ions B aus ? Klar, M ist nicht weit und sicher ein Nachbar. Aber auch A und C liegen nicht weit von B. Sie sind fast direkt unter bzw. über B, nur etwas zur Seite verschoben. Sind sie genauso weit von B entfernt wie M, oder näher, oder weiter ? Die Grenzen der Schnittsequenzen werden immer deutlicher. Und zu den übernächsten Nachbarn kann man mit dieser Methode überhaupt nichts sagen. Wir brauchen zusätzliche Werkzeuge.

 

Schnittsequenzen sind Ebenen, die durch die Elementarzelle gelegt werden.
      Vorteil : anschaulich, zeigt Nachbar–Beziehungen
      Nachteil : benötigt Erfahrung

 

7.1.6. Atomumgebungen (engl. atomic environment)

Die Frage, wie die Nachbarschaft eines Atoms oder Ions in einem Kristall aussieht, ist oft von großer Bedeutung. Zwischen dem Atom oder Ion und anderen solchen Teilchen, die nah bei ihm liegen, wirken Kräfte. Es sind elektrostatische Kräfte, und sie sind die Ursache der Bindungen. Will man also wissen, welche Bindungen zwischen den Atomen oder Ionen in einem Kristall wirken (und das will man oft wissen), ist es nützlich, einige Dinge zu wissen.

Die Schnittsequenzen aus dem vorigen Abschnitt konnten diese Fragen nur ansatzweise beantworten. Die Atomumgebung ist das zusätzliche Werkzeug, das ich dort in Aussicht gestellt habe.

Wie geht man vor ? – Man wählt ein beliebiges Atom oder Ion aus der Elementarzelle. Dann berechnet man seinen Abstand zu anderen Atomen oder Ionen. Damit sind nicht nur die Teilchen in der Elementarzelle gemeint, sondern auch weiter entfernte, bis zu einer Grenze, die man letztenendes selbst setzt. Die Abstandsberechnung ist eine langweilige und zeitaufwendige Arbeit, die ich einem Rechner überlasse. Die Ergebnisse stellt man in einem Histogramm dar und zieht Folgerungen daraus.

Dieses Verfahren wiederholt man für alle Atome oder Ionen der Elementarzelle (genau genommen, für alle Teilchen der asymmetrischen Einheit).

Histogramm zur Umgebung der Ionen in NaCl Histogramm zur Umgebung der Ionen in NaCl

Bild 5 : Umgebung der Ionen in NaCl. Die Elemente sind farbcodiert.
Chlor, Natrium.

Wie liest man das Histogramm ? – Beispiel Natriumchlorid NaCl.

In diesem Abschnitt wollen wir versuchen, das Histogramm zu verstehen und möglichst viele Informationen aus ihm heraus zu lesen. Damit das gelingt, habe ich ein Beispiel gewählt, mit dem viele vertraut sein werden. Wir können also unsere Vermutungen (das, was wir glauben, aus dem Histogramm heraus lesen zu können), sofort an der Realität (dem tatsächlichen Aufbau des Natriumchlorid–Kristalls) messen.

Beginnen wir mit dem ersten Histogramm von Bild 5.

Beim zweiten Histogramm von Bild 5 können wir uns kürzer fassen – zum Glück. Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit nur auf 2 Punkte lenken.

Histogramm zur Umgebung der Ionen im Rutil Histogramm zur Umgebung der Ionen im Rutil

Bild 6 : Umgebung der Ionen im Rutil (TiO2). Die Elemente sind farbcodiert.
Sauerstoff, Titan.

Wie liest man das Histogramm ? – Beispiel Rutil TiO2.

Wenn wir uns die beiden Histogramme in Bild 6 ansehen, fallen schnell 3 Dinge auf.

Kann man trotzdem irgend etwas aus den Histogrammen herauslesen ? Ja, sicher. Geschickt ist es, dabei die Bilder 3, 4 und 6 gemeinsam zu betrachten.

Die asymmetrische Einheit von Rutil umfasst ein Sauerstoff–Ion und ein Titan–Ion. Wir brauchen uns also von jeder Ionensorte nur ein Ion anzusehen. Es ist egal, welches wir wählen, denn durch die Symmetrie haben alle anderen dieselbe Umgebung. Wählen wir also praktisch.

Zuerst das Sauerstoff–Ion. Wir wählen Ion B in Bild 4.

Nun das Titan–Ion. Wir wählen Ion M in Bild 4.

 

Atomumgebungen beschreiben Zahl und Abstand der Atome, die sich um ein anderes Atom herum befinden.
      Vorteil : exakt, zeigt Nachbar–Beziehungen
      Nachteil : wenig anschaulich, benötigt Erfahrung

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